Didi Constantini hat in Österreich Fußballgeschichte geschrieben: mehrfacher Meister als Spieler, Trainer der Nationalmannschaft, Talentförderer und Sympathieträger. 2019 bekam er die Diagnose „Demenz“. alzheimer.ch sprach mit seiner Tochter Johanna über Lebensqualität, Entlastung, Aufklärung und Hoppalas.
Von Martin Mühlegg
alzheimer.ch: Wie geht es Ihrem Vater?
Johanna Constantini: Ich war gestern bei ihm. Wir haben den Tag zusammen im Garten der Eltern im Stubaital verbracht. Er ist seit anderthalb Jahren im Pflegeheim. Wir haben uns zu diesem Schritt entschlossen, weil es zu Hause zunehmend schwieriger wurde, ihn zu begleiten.
Wir haben einen Mittelweg gewählt: Am Abend, in der Nacht und den Morgenstunden ist er im Heim. Dort bekommt er professionelle Unterstützung, und fast täglich holt ihn ein Familienmitglied oder ein Freund ab. So können wir sehr viel Zeit mit ihm verbringen.
Der Umzug ins Heim fällt den meisten Betroffenen und Angehörigen sehr schwer …
Es war sehr herausfordernd und emotional, weil die Übersiedlung ins Heim für Papa nicht ganz freiwillig war. Er hat sich darauf eingelassen und fragte nach der ersten Nacht, ob er wirklich bleiben müsse. Es bedeutet eben auch einen Abschied, der wohl unwiderrufbar ist. Andererseits hat es uns viel Entlastung gebracht.
Wenn die Belastungen wegfallen, können die Begegnungen unbeschwerter werden …
Ich höre in meiner Praxis als Psychologin immer wieder, dass Betreuende ausgelaugt sind und nicht mehr die Kraft haben, 24/7 zu begleiten, zu pflegen und zu unterstützen. Wir sind jetzt entlastet und freier. Das hat dafür gesorgt, dass wir die gemeinsame Zeit mit ihm mehr genießen können.
Ihr Vater ist mit 67 relativ jung, und er hat die Diagnose erst vor drei Jahren erhalten. Warum wurden die Belastungen zu Hause zu groß?
Grundsätzlich ist es gut, dass das Haus meiner Eltern auf dem Land ist. Aber die Winter sind sehr hart in den Tiroler Bergen. Papa ist immer gern rausgegangen. Er hat sich auch mal verlaufen und ist von Nachbarn wieder zurückbegleitet worden.
Seit dem vorletzten Winter konnten wir ihn nicht mehr einfach durch den Schnee losstapfen lassen, weil die Gefahr zu groß wurde.
Das Haus meiner Eltern hat zwei Etagen, und die Treppen wurden zu einem Problem. Natürlich hätten wir umbauen und jemanden zur Betreuung einstellen können. Wir kamen zum Schluss, dass er das so nicht annehmen würde. Für alle in unserer Familie wäre es kaum lebbar gewesen.
Manche Angehörigen plagen in dieser Zeit Schuldgefühle. Wie haben Sie das erlebt?
Unser Papa hätte nie von uns erwartet, dass wir alles um ihn herum stemmen, dass wir 24/7 für seine Pflege zuständig sind. Er hätte von uns erwartet, dass wir für unsere Leben zuständig sind.
Die Liebe ist immer noch da, die ist wohl noch stärker geworden, weil die Belastungen kleiner geworden sind.
Dort muss die Qualität wohl auch liegen, denn es ist ja die Liebe, die die Menschen bis an ihr Lebensende spüren. Der Papa begrüßt uns auch heute noch mit „Schatz“ und „Liebling“, er ist gerne bei uns, diese Herzenswärme konnten wir wohl auch durch diesen Schritt erhalten.
Man sollte sich nicht gegen Fremdbetreuung wehren. Die Pflegenden im Heim sind sehr lieb mit ihm. Manchmal fühlt er sich dort auch mal weniger wohl, aber wir können ihm nicht alles abnehmen.
Wie sehen seine Tage aus? Was beglückt ihn?
Das Zusammensein mit seinen Freunden und seiner Familie beglückt ihn nach wie vor. Er freut sich sehr, wenn ihn jemand abholt und Zeit mit ihm verbringt. Er freut sich aber auch, wenn er im Heim wieder zur Ruhe kommen kann.
Papa hat Zeit seines Lebens an vielen kleinen Sachen Freude gehabt. Er brauchte nicht viel, um glücklich zu sein. So sind wir aufgewachsen: Wir alle genießen die Familienzeit und sind gerne von lieben Menschen umgeben.
Was betrübt ihn?
Es frustriert ihn, dass er vieles nicht mehr kann. Er merkt es zwar weniger als noch vor zwei Jahren. Ihn frustrieren auch Konflikte mit den Mitbewohnern oder Missverständnisse – Dinge des täglichen Lebens, die halt dazugehören.
Es ist schön, dass ihn Freunde von früher treffen wollen. Man hört oft, dass Kontakte abgebrochen werden, weil die Krankheit und ihre Auswirkungen selbst beste Freunde verunsichert.
Es gibt eine Handvoll Freunde, die ihn abholen und sich zutrauen, allein mit ihm unterwegs zu sein. Es gibt einen weiteren Kreis, der dann von diesen Freunden mit ihm besucht wird.
Es gibt auch Freunde, die regelmäßig mit ihm telefonieren oder per Mail bei uns nachfragen, wie es ihm geht. Es sind viel weniger als früher, aber das ist auch gut so, weil er zu viele Kontakte nicht mehr verarbeiten könnte.
Welche Rolle spielt der Fußball in seinem Leben?
Wir waren vor einem Jahr das letzte Mal mit ihm im Stadion. Letzten Sommer besuchten wir zusammen seine Fußballcamps für Kinder, die er in ganz Österreich ins Leben gerufen hat. Er ist noch immer der Schirmherr, ihre Organisation hat sein langjähriger Freund Andi Schiener übernommen.
Es macht Papa viel Freude, wenn wir auf diese Camps gehen und die Kinder ihn mit Sprechchören begrüßen.
Im TV schaut er schon lange keinen Fußball mehr. Er interessiert sich vor allem für seine Nachwuchsprojekte.
Sind Sie zufrieden mit den Angeboten, die es für Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen gibt?
Wir sind in einer sehr guten Position, weil mein Papa Zeit seines Lebens eine Person des öffentlichen Interesses gewesen ist. Vielleicht hatten wir auch ein Stück weit einen Promi-Bonus. Ich spreche in meiner Praxis mit Angehörigen, die einen beschwerlicheren Weg haben.
Pflegegelder lassen auf sich warten, es gibt Einstufungen, die mehr als fragwürdig sind. In Tirol gibt es mobile Pflegedienste, die jetzt ausgebaut werden. Es gibt auch Selbsthilfe. Grundsätzlich braucht es aber immer mehr! Es wird in Zukunft mehr Angebote brauchen, auch mehr Plätze in Pflege- und Wohnheimen. Es braucht auch mehr Aufklärungsarbeit.
Woran machen Sie das fest?
Die erste Frage, die mir Menschen im Zusammenhang mit meinem Papa stellen, ist, ob er uns noch erkennt. Es ist immer dieses Damoklesschwert, das über Demenzerkrankungen schwebt. Es ist zu wenig bekannt, dass es in einer Demenz ganz viele Abstufungen gibt.
Es ist auch kaum bekannt, dass immer mehr Menschen – auch junge – davon betroffen sind, dass viele von ihnen noch im Berufsleben stehen. Es braucht auch mehr Aufklärungsarbeit in Hinblick auf Prävention. Was kann ich tun, so lange ich noch gesund bin? Man sollte sich darüber Gedanken machen, wie man Unterstützung bekommen kann und wo man untergebracht werden soll.
Es wäre auch bei uns einfacher gewesen, wenn wir mehr darüber gesprochen hätten. Ich würde das Thema „Effizienz und Digitalisierung“ in die Aufklärung mit einbeziehen. Wir sind immer schneller und effizienter. Manchmal kommt es mir vor, dass die Menschen verloren gehen, die dem nicht mehr standhalten können.
Sie sagten, Ihre Familie hätte vom Promi-Bonus profitiert. In Ihrem Buch liest man aber von Geschichten, Problemen und Gefühlen, die leider ganz normal sind und in fast allen betroffenen Familien vorkommen. Es gab Scham, Rückzug und depressive Verstimmungen. Es gab Sprachlosigkeit und unsensible Ärzte …
Es ist wohl so wie in sehr vielen Familien. Nur: Es gibt Gründe, warum Papa so viele Sympathien genießt. Er hat viele Menschen an seinem Erfolg teilhaben lassen, deshalb sind ihm viele Menschen wohlgesinnt. Er behandelte den Platzwart gleich freundlich wie den Bundespräsidenten.
Wenn er sich jetzt zweimal vorstellt oder aus dem Glas des Tischnachbarn trinkt, nimmt ihm das niemand krumm. Er ist noch immer der Didi, mit dem man gerne zusammen ist. Man verzeiht ihm seine Hoppalas.
Viele Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen verstecken sich aus Scham vor Fehlleistungen.
Das ist ein wichtiges Thema: Viele Betroffene haben Angst davor, nicht dem Bild zu entsprechen, das sie abgeben sollten. Es ist gut, wenn wir alle bei uns selber beginnen. Wir sollten uns überlegen, ob es wirklich so schlimm ist, wenn wir mal einen Fehler machen. In dieser Beziehung ist der Papa immer gut angenommen worden.
Ihrem Vater ist 2019 ein dramatisches Hoppala passiert: Er ist auf der Brennerautobahn zum Geisterfahrer geworden und frontal in ein anderes Auto gefahren. Welche Gefühle haben Sie, wenn Sie an diese Zeit zurückdenken?
Der Tag jährte sich kürzlich. Es war einer der schlimmsten Tage auf unserer Reise. Wir sind extrem froh, dass nicht mehr passiert ist. Wir haben noch immer Kontakt zum jungen Mann, in den Papa gefahren ist.
Jedes Mal, wenn ich im Radio von Geisterfahrern höre, frage ich mich, ob jemand wegen einer Demenz die Orientierung verloren hat.
Es ist und bleibt ein schwieriges Thema. Selbständigkeit wird von vielen mit Autofahren in Zusammenhang gebracht.
War es nach dem Unfall schwierig, ihn vom Autofahren abzuhalten?
Der Führerschein wurde ihm abgenommen. Es wäre eine Nachschulung nötig gewesen, und die hat er nicht mehr gemacht. Er hat relativ schnell eingesehen, dass es nicht gut ist, wenn er wieder fährt. Wir könnten solchen Konflikten Abhilfe schaffen, indem wir Fahrgemeinschaften bilden oder die Verbindungen der ÖV aufs Land verbessern.
Sie und Ihre Familie haben die Krankheit Ihres Vaters nach dem Unfall offen kommuniziert. War das rückblickend der richtige Weg?
Ja, auf jeden Fall! Als nach dem Unfall die namentliche Erwähnung des Verursachers nicht lange auf sich warten ließ, haben wir die Flucht nach vorne ergriffen. Kritik wäre ohnehin gekommen, und der haben wir uns gestellt.
Die Kritik ist auch mit der Veröffentlichung des Buches gekommen. Aber was wir heute an Rückmeldungen bekommen ist viel wertvoller als die Kritik, die sich nicht vermeiden lässt.
Was hat das Buch ausgelöst?
Es ist gut angekommen. Ich habe viele Rückmeldungen bekommen von Betroffenen und ihren Angehörigen. Auch Papas alte Freunde haben es gelesen. Es freute mich enorm, dass sie ihn wiedererkannt haben in meinen Schilderungen. Wenn Leute schreiben, dass ihnen dank des Buches eine Entscheidung leichter gefallen ist, dann gibt mir das extrem viel.
Wegen des Lockdowns hatte ich leider kaum Lesungen und öffentliche Auftritte. Jetzt nimmt es wieder Fahrt auf. Da kommen Leute, die haben Papa lange beobachtet und begleitet, da werden Erinnerungen ausgetauscht, in denen ich ihn wiederfinde.
Sie sind durch die Erkrankung Ihres Vaters nicht nur Autorin, sondern auch Demenz-Aktivistin geworden. Was haben Sie neben den Lesungen noch vor in diese Richtung?
Ich arbeite mit verschiedenen Organisationen zusammen, trete für mehr Aufklärung ein und versuche am Beispiel unserer Geschichte aufzuzeigen, welche Möglichkeiten es gibt, mit der Krankheit umzugehen.
Ich stelle im Zusammenhang mit meiner Doktorarbeit Forschungen an zum Ausbau der Online-Selbsthilfe, die ja während der Corona-Zeit besonders wertvoll war. Ich untersuche, wie mehr Betroffene und Angehörige zueinander finden.
Ich schreibe weiter, es sollen noch Bücher folgen. Dies hilft mir selber bei der Aufarbeitung dieser Reise. In meiner Praxis habe ich auch mit verschiedensten Herausforderungen zu tun, die im Zusammenhang stehen mit Demenz.
Johanna Constantini ist Klinische Psychologin, Arbeits- und Sportpsychologin in Innsbruck. Ihr Buch „Abseits … Aus der Sicht einer Tochter“ ist im Seifert Verlag 2020 erschienen.
Wir danken alzheimer.ch für die Erlaubnis zur Veröffentlichung dieses Interviews.
Weiterführende Infos:
www.demenzwiki.at
Von A wie Achtsamkeit bis Z wie Zuhause: Im online-Lexikon demenzwiki finden Sie rasch und unkompliziert Infos zu den wichtigsten Schlagwörtern im Bereich Demenz. Warum das wichtig ist? Betroffene und Angehörige haben viele Fragen, die eine praxisnahe Antwort verlangen – einfach und kompakt. Hier hilft seit 2022 das Demenzwiki, ein Angebot des Vereins Podium Demenz.
www.alzheimer.ch
Lernvideos, Reportagen, Fallbeispiele, Tipps, Blogs und Interviews: alzheimer.ch setzt seit 2016 neue Massstäbe in der Vermittlung von Demenzwissen. Dazu gehört auch der aktive Austausch zwischen Betroffenen, Angehörigen und Fachleuten auf den Social Media. Denn ein gutes Leben mit Demenz ist möglich – mit dem richtigen Know-how und einer unterstützenden Community. Die Plattform alzheimer.ch ist ein Angebot des Vereins Podium Demenz.
18. Juli 2022